Ermland-Blues, das Exposé

Blick vom Hexenberg auf Nowe Marcinkowo

 

 

 

 

 

 

Zeit und Handlungsorte
Die Hauptgeschichte spielt in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts in der Gegend um den Dadaj-See im Ermland in Masuren, die anschließenden Episoden aus dem Umkreis der Hauptpersonen und deren Nachfahren ebenfalls dort zu jener Zeit und bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs. Weitere Episoden aus der Kindheit des Ich-Erzählers spielen in der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg in Westdeutschland und schließen die Rahmenhandlung, mit der der Ich-Erzähler den Leser in die Hauptgeschichte einführte.

Hintergrund und Kurzbeschreibung des Romans
Dem Erzähler liegt eine Geschichte seiner Vorfahren im Ermland am Herzen. Sie zu erzählen, beschwört in ihm Zweifel darüber herauf, was denn Heimat sei. Es gelingt ihm nicht recht, dies zu benennen, und darin liegt bereits jene gewisse Schwere, die es braucht, um einen Blues anzustimmen. Die Flucht seiner Mutter am Ende des Zweiten Weltkriegs mit ihm als kleinem Kind auf den Armen hat ihn aus der Heimat seiner Vorfahren fortgeführt. Dort, wohin er dann kam und wo er seitdem lebte, fand er alles Mögliche, doch Wurzeln nicht. Eine Jahrzehnte später unternommene Reise ins Ermland lässt ihn überwältigend spüren, wo diese Wurzeln liegen. Als dann auch noch seine Vorfahrin aus dem 19. Jahrhundert, Catharina Dobrowolski, eines Nachts vor ihm stand –

traumartig. Einfach so. Nicht, daß ich sie erwartet oder gar gerufen hätte. Sie kam, weil sie es so wollte. Sie sagte, sie heiße Catharina Dobrowolski und käme aus dem Ermland.  So aus der Ecke um Bischofsburg,

– kann er die Geschichte erzählen. Sie liegt weit zurück, aber mit ihr setzt gleichsam die allmähliche, sich bis zu ihm fortsetzende Entfernung aus der Heimat ein. Es geht insgesamt viel in dem Roman darum, dass man etwas zurücklassen muss, nicht nur einen gewohnten Ort, sondern auch ein altes Leben, um ein neues zu beginnen. Es geht um die Lebenserfahrung, dass „man so gern meecht bleiben und muß doch fort“.

Der Ich-Erzähler nimmt nun den Leser an die Hand und führt ihn in die Landschaft des Ermlands und in das Leben einiger seiner Bewohner. Und so wie die Landschaft ist, so weit, so durchdrungen von einer Ruhe und einer Langsamkeit, entstehen nun im Fortgang der Erzählung vor dem Leser die Ereignisse. Dabei entsteht, auch aus Unkenntnis der damaligen Details, weniger ein historisch genaues als vielmehr ein poetisches Gemälde.

„Wir erzählen diese Geschichte so, wie wir sie uns erträumt haben. Nicht gradlinig, nicht logisch, schon gar nicht in einer bestimmten zeitlichen Reihenfolge. Auch die Gegend, in der wir uns traumwandlerisch bewegen, haben wir uns nach unserem Befinden zurechtgeschnitten. Historisch verbürgte Ereignisse verschieben wir auf der Zeitachse nach vorn oder nach hinten, grad so, wie es uns brauchbar erscheint.

Eingeflochten darin wird, teils in balladenartigen Versen, das Schicksal dieses Landstrichs und seiner Bewohner von der Besiedlung durch den Deutschen Orden bis zum Zweiten Weltkrieg bildhaft dargestellt – dies nun aber den historischen Fakten verpflichtet.

Der junge Priester von Groß Bartelsdorf im Ermland, Tadeusz Masoweczki, übereifrig zu Beginn seiner Amtszeit, stigmatisiert anlässlich einer Taufe im Jahr 1845 die ledige Mutter, der kein Mann, kein Kindsvater zur Seite steht. In seiner Rede vermischt sich der ermländische, aus dem Polnischen wie dem Deutschen gleichermaßen schöpfende Dialekt mit der Bigotterie eines als gottesfürchtig gedachten katholischen Glaubens. (Diese Mundart durchzieht den Roman und trägt mit zu seiner besonderen Blues-Stimmung bei, denn in ihr steckt Melancholie ebenso wie eine ganz augenblicksbezogene Heiterkeit.) Die Kindsmutter geht verschollen, das kleine Mädchen Catharina wächst bei der Tante auf. Und als sie zwanzig Jahre alt ist, verführt der gleiche Pfarrer sie hinter dem Altar. Als ein Kind sich ankündigt, schweigt der Pfarrer dazu, ohne offen das Geschehene leugnen zu wollen. Bei dieser Kindstaufe ist er nicht mehr der unnachsichtige Moralprediger. Er bittet die Gemeinde um Verständnis, ja, er fordert von ihr ein Verzeihen dafür, dass der Mensch auch schwach sein kann. Catharina, die Mutter des Täuflings, gibt auf seine Worte gut acht, denn sie ist entschlossen, etwas zu erreichen: „Mein Johannchen soll einen Vater haben. Mein Johannchen soll nicht irgendeinen Vater haben. Mein Johannchen soll seinen Vater haben.“ Obwohl bereits während der Tauffeier provokative Anspielungen eines Gemeindemitglieds den Pfarrer in Bedrängnis bringen, schweigt er zunächst weiter. Doch bald darauf hält das Schicksal in Form eines Schneesturms Catharina mit ihrem kleinen Sohn etliche Tage im Haus des Pfarrers fest. Sie waltete dort als Haushälterin. Nun wird sie erneut schwanger. Wieder kursieren Gerüchte im Dorf, die auch dem Bischof zu Ohren kommen. Er zitiert den Priester zu sich. Dank des wohlwollenden Einflusses der alten Babka, einer Kräuterfrau, steht Tadeusz, als er vor den Bischof tritt, zu seinem schon zuvor insgeheim gefällten Entschluss und sucht die Konfrontation mit der Kirche, nicht die Reue und Abkehr von der Kindsmutter. Konsequent tritt er kurz darauf bei der Sonntagsmesse vor die Gemeinde und verkündet das in der Gemeinde bereits hinter vorgehaltener Hand Kolportierte, aber Unfassliche: Er, der katholische Priester, ist Vater zweier Kinder und er wird daher die Gemeinde verlassen. Tatsächlich wird er in der neuen, nicht so weit entfernten Heimat, auch seinen Glauben verlassen und evangelischer Pfarrer werden.

Im letzten Drittel des Buchs werden nun noch Lebensschicksale anderer Menschen aus Cathrina Dobrowolskis Familie in Episoden geschildert. Von der Zeit Catharinens bis zum Nationalsozialismus und Zweiten Weltkrieg. Zuletzt erlebt der Leser den Erzähler, wie er als kleiner Junge nach der Flucht durch die Erzählungen seiner Großmutter zum ersten Mal ein lebendiges Bild jener Heimat vermittelt bekommt, die er auf dem Arm der Mutter verlassen musste, noch zu klein, um eigene dauerhafte Erinnerungsbilder mitnehmen zu können.

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